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Liebe, Lüge, Wahn und Schmerz
Atemberaubende Premiere von "Madama Butterfly"
Bielefeld (ame). Mit einem 14 Minuten währendem Applaus und stehenden Ovationen endete die Premiere von "Madama Butterfly" in der Inszenierung von Nadja Loschky im Stadttheater Bielefeld. Das Taschentuch, das die Besucher zu Beginn gereicht bekamen, dürfte weniger etwaigen Tränen der Rührung gedient haben, als vielmehr dazu, in den Händen der Zuschauer durch endloses Pressen und Knüllen das Ende seiner Gebrauchsfähigkeit zu finden. Höchstens noch zum Schweißabwischen mag es gedient haben, denn diese Inszenierung bot ein nicht mehr zu überbietendes Spannungsniveau.
Wenn eine Saite endlos überspannt wird, dann zerreißt sie. Wenn man dasselbe mit Seelen macht, zerbrechen sie. Wer dabei zuschaut, wird eher Wut empfinden als Mitgefühl und zudem wird ihn – vielleicht – ganz vage eine Ahnung anwehen, dass ein Leichtnehmen der Dinge manchmal unabsehbare Folgen haben kann. Wir sind verantwortlich für unser Tun – das war die Botschaft des Abends und sie kam im Gewand der Oper Puccinis und zeigte dennoch, wie zeitlos diese Wahrheit ist.
In der Inszenierung von Nadja Loschky singt die Butterfly aus einer Erinnerung heraus. Sie lässt die Bilder ihrer Geschichte vor ihrem inneren Auge noch einmal entstehen – und damit auch vor unseren Augen. Joy Maria Bai spielte dabei ihr Alter Ego, die 15 Jahre junge Geisha Cio-Cio-San, genannt Butterfly, deren Vater auf Befehl Harakiri beging und damit sie und ihre Familie in die Armut brachte. Butterfly ahnt, dass ihr Weg sie bergab führen wird.
Als ein amerikanischer Offizier sie ehelicht, glaubt sie, ihrem Schicksal entronnen zu sein. Doch die Ehe kann einseitig – vom Offizier – gelöst werden. Was Butterfly wirklich für ihn ist, zeigt er, als er ihr zur Hochzeit ein Paar Schuhe ins gemeinsame Haus bringt. Sie versucht darin zu laufen, aber diese Schuhe passen ihr nicht – sie stolpert, fällt heraus, stürzt. Es sind rote Schuhe. In einem grellen Hurenrot. Der schneeweiße Kimono ist innen blutrot – ihr schlichtes, westlich geschnittenes Kleid ist nach der Hochzeitsnacht und in Folge in weinrot gehalten – die dezente Farbe einer Dame.
Wie es möglich ist, das Bühnenbild (Ausstattung Christian Wiehle und Gabriele Jaenecke) optisch so sehr zu reduzieren und gleichzeitig mit jedem Gegenstand symbolhafte Aussagen zu "malen" – man mag es kaum fassen. Da gibt es Origami-Vögel, die – trotz der Ventilatoren – nicht fliegen können, Zerrspiegel als Abbild der Außenwelt, die leicht zu bewegenden Wände der japanischen Häuser werden durch Vorhänge nur angedeutet. Einen Schmetterling aufzuspießen, bedeutet seinen qualvollen Tod billigend in Kauf zu nehmen – nur, um sich an seiner Schönheit erfreuen zu können. Der Vollzug der Hochzeitsnacht malte genau dieses Bild und es gab noch so viel mehr Bilder. Die zum Schwur erhobene Hand, mit der Butterfly ihren Mann nach Jahren erwartet, sagte ohne Worte: "Sieh her – was immer sie sagten, ich habe hier mit meinem Kind auf dich gewartet und niemals aufgehört dich zu lieben. Ich bin ganz und gar und auf ewig dein."
Bis es soweit ist, verzehrt sich Butterfly jahrelang in Liebe und will die Wahrheit nicht wahr haben. Sie verliert ihre Lebenskraft, denn Wahn zerstört. Angedeutet wird dies durch die Selbstverletzungen, die sie "ausbluten" lassen. Als sie der Wahrheit ins Auge sehen muss – ihr Untergang ist unumgänglich – und sie dazu noch ihr Kind hergeben soll, da weicht Nadja Loschky vom Original ab und tut es auch wieder nicht, denn: "Stirbt" eine Mutter etwa nicht, die sich, nur weil sie arm ist und verlassen wurde, für immer von ihrem Kind trennen muss? Es bringt sie um! Die Wegnahme des Kindes, sein Tod, ihr Tod – wo ist da also der Unterschied? Das so deutlich zu machen war keine Verfremdung der Oper, sondern eher eine ganze Kette von Ausrufungszeichen und ein unbedingt stimmiges Ende. Soviel Tiefe in jedem Detail ...
Dass Theater so unter die Haut gehen kann, dass man eingesogen wird in die Handlung wie in einen Strudel, dass man verschmilzt in einem Grad, der über die Identifikation mit der Protagonistin weit hinaus geht, das alles war an diesem Abend nicht etwa dem eigenen Gemütszustand geschuldet, sondern der bezwingenden Darstellung aller Beteiligten. Großartig auch Joy Maria Bai als die junge Butterfly: Sie war zwar stumm, doch unmissverständlich spielte ihre Mimik auf der Klaviatur der Gefühle. Der Zuschauer fühlte sich dabei oft fast wie ein Voyeur: Man mochte die Augen niederschlagen, beim Anblick solch tiefer seelischer Not.
Soojin Moon sang mit ihrer fantastischen Stimme diese anspruchsvolle Rolle, ohne dass auch nur jemals die allerkleinste Andeutung von Anstrengung wahrzunehmen gewesen wäre. Überragend! Von der Schönheit und Qualität der Stimme überzeugten schon die ersten Töne. Lyrischer Sopran oder dramatischer Sopran – Soojin Moons Stimme vereinigt beides. Anders, als bei ihrem Debüt als Tosca, durfte Soojin Moon Gefühle zeigen. Dass sie und ihr Alter Ego sich dennoch nie in die Quere kamen, war in der Art wie es geschah so spannend, dass man den Begriff "atemberaubend" wörtlich nehmen durfte.
Großartige stimmliche Leistungen kamen zudem von Daniel Pataky als Offizier Pinkerton, von Evgueniy Alexiev als Konsul Sharpless und von Melanie Forgeron als Dienerin Suzuki. Starke Stimmen allenthalben und dazu das Orchester (die Bielefelder Philharmoniker unter der Leitung von Alexander Kalajdzic) sowie der Theaterchor, schenkten den Zuhörern musikalische Momente reinster Schönheit. Nadja Loschky hat aus "Madama Butterfly" ein Mosaik gemacht, in dem jeder einzelne Stein ein lupenreiner Diamant ist. Man muss diese Inszenierung sehen. Sie hat das Potenzial, Theatergeschichte zu schreiben. Mehr Oper geht nicht!
vom 04.10.2014 | Ausgabe-Nr. 40B